Das Märchen von der Kreativität

Es war einmal ein Mädchen, ich nenne sie Elisabeth. Elisabeth war zierlich und von empfindlicher Gesundheit. Ihre Eltern dachten, sie müssten sie schonen und von allzu viel Anstrengung fernhalten. Sie liessen sie zur Volksschule gehen, dann auf die Realschule, aber nur mit grossem Zögern. Ständig beobachten sie, ob es Elisabeth zu viel würde. Und tatsächlich war sie häufig krank. Elisabeth schaffte die Mittlere Reife, aber sie dachte von sich selber, dass sie schwach und auch ein bisschen dumm sei. Nach der Mittleren Reife machte sie eine Ausbildung zur Kinderkrankenschwester, denn sie liebte Kinder über alles. Aber eines Tages dachte sich Elisabeth: Jetzt reicht’s. Ich will doch noch etwas anderes als das, was meine Eltern mir zugestehen. Ich bin gar nicht so schwach und kränklich, wie immer alle glauben. Und ganz dumm bin ich auch nicht. Immerhin habe ich meine Prüfungen bestanden. So studierte sie Sozialpädagogik und bestand auch hier die Prüfungen. Nun wurde sie richtig mutig und beschloss, ihren Traum zu verwirklichen und Ärztin zu werden. Mittlerweile hatte sie einen Mann kennen und lieben gelernt. Sie bekam ihr erstes Kind, einen Sohn, wenig später einen zweiten. Zum Lernen hatte sie sich eine kleine Garage neben dem Häuschen eingerichtet, in dem sie mit ihrer Familie lebte. Sie entwickelte eine solche Kraft, und je mehr sie lernte, und Prüfungen bestand, umso mehr Vertrauen bekam sie in sich selbst. Heute hat Elisabeth eine eigene Praxis mitten auf dem Land. Sie hat 3 Kinder gross gezogen, einen Verein gegründet, ihr zweites Enkelkind ist auf dem Weg. Sie hält international Vorträge zu den Themen, die sie bewegen, und man hört ihr zu. Sie hat ein Buch herausgegeben, und noch vieles mehr auf den Weg gebracht.

Warum erzähle ich diese Geschichte?

Die meisten Menschen glauben, dass Kreativität etwas mit Kunst, Musik, Gedichte schreiben oder ähnlichem zu tun hat. Zudem ist die Erziehung und Schulbildung in diesem Bereich mehr als mangelhaft. Kinder bekommen Zensuren in den Fächern, in denen es um persönlichen Ausdruck und Einfallsreichtum, sprich Kreativität, geht. Es ist also kein Wunder, dass die meisten von uns denken, wir seien nicht kreativ. Natürlich gehören Kunst, Musik, Dichtung in den Bereich der Kreativität. Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Elisabeths Geschichte zeigt, was kreativ sein auch bedeutet. Es heisst, seinem eigenen Leben die Wendung zu geben, die ich möchte und dafür alles zu tun. In diesem Sinne kann jeder Mensch kreativ sein. Das Wort Kreativität kommt aus dem Lateinischen creare und bedeutet erschaffen. Wir alle erschaffen unser Leben, ständig, jeden Tag aufs Neue. Wenn ich morgens aufstehe, meinen Kaffee mache, dusche, Zähne putze, meine Kleidung anziehe, erschaffe ich den neuen Tag. Wenn ich mir Gedanken mache um einen Klienten, oder wenn ich die Wohnung putze, ein Essen koche, dafür einkaufe, all das kann ein kreativer Akt sein. Es hängt nur von mir ab.

Heute morgen las ich in der Zeitung die Geschichte zweier junger Menschen, die arbeitslos waren. Sie wussten nicht recht, was sie machen sollten und waren schon einigermassen verzweifelt. Da hörten sie eines Tages im Vorübergehen ein paar Leuten zu, die sich darüber unterhielten, dass es schwierig sei, sich während der Arbeitszeit gut zu ernähren, entweder weil die Zeit fehle, essen zu gehen oder die Kantine zu schlecht sei. Plötzlich hatten sie eine Idee und setzten sie sehr erfolgreich in die Tat um: Sie öffneten einen fliegenden Mittagstisch, das heisst, sie bereiten Essen zu und bringen es in die Büros. Ihre Geschäftsidee schlug ein wie eine Bombe, und es macht ihnen grosse Freude.

Eine andere Geschichte. Ich lernte vor kurzem einen Mann kennen, der ein sehr erfolgreicher Professor für Soziologie und Erziehungswissenschaften mit mehreren Doktortiteln an der Uni war. Vor einigen Jahren jedoch entschied er sich, seiner wirklichen Leidenschaft, der Architektur, zu folgen. Er liess sich beurlauben, kaufte ein vollkommen verrottetes Haus und renovierte es von grundauf und machte damit ein Vermögen. Er ist heute ein glücklicher Mann. Er erzählte mir, dass seine Devise ist: wann immer die Leute sagen, „das geht nicht“ oder „das ist vollkommen verrückt“, dann weiss er, es ist genau das Richtige für ihn. Und er hat Erfolg.

Ich habe in allen Geschichten einige Merkmale von Kreativität herausgefunden. Kreativ sein bedeutet:

  • Etwas Neues erschaffen aus dem, was schon da ist,
  • Dranbleiben an einem Ziel, durchhalten
  • Mutig sein, neue Wege gehen
  • Neue Fertigkeiten lernen
  • Gegen den Strom schwimmen
  • Sein Leben selbst bestimmen und nicht von anderen, vom Schicksal, von Geld, oder sonstigen äusseren Faktoren bestimmen lassen
  • Aus jeder Lebenssituation das Beste machen, z.B. aus Verlust des Arbeitsplatzes, Trennung vom Partner,
  • Sich nicht von der Meinung anderer irritieren lassen, dem eigenen Bauchgefühl folgen
  • Sich selbst und seiner Kraft vertrauen

In diesem Sinne hat jeder Mensch das Potential, kreativ zu sein. Nur Mut!  Wenn meine über 80jährige Tante noch lernen kann, im Internet zu surfen, dann ist (fast) alles möglich.

 

 

Der Artikel wird im KGS 2, 2010, veröffentlicht