Der Traum von der ewigen Liebe

 

Im Januar ist die Anzahl der Scheidungsanträge eine der höchsten im Jahr. Warum?

Ich glaube, weil wir uns wider besseres Wissen und all unseren Erfahrungen zum Trotz immer noch Illusionen machen und romantische Träume von der heilen Familie, dem immerwährenden Glück zu zweit hegen und pflegen. Ich habe dem sehr viele Jahre auch angehangen!

Ich habe schon immer Märchen geliebt. Heutzutage sind es die Telenovelas im Fernsehen, die wunderbar die romantischen Sehnsüchte von der wahren ewigen Liebe bedienen. Die Menschen in den Geschichten werden zwar vom Schicksal gebeutelt und vielfach geprüft, aber das „Happy End“ ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Das beruhigt, auch wenn es in seiner Schlichtheit vollkommen unrealistisch ist.

Gerade zu Weihnachten hoffen wir, dass alles gut wird, dass Frieden herrschen möge in der Welt, und wenn schon nicht da, dann wenigstens zu Hause, in unseren eigenen vier Wänden. Wir möchten Streitigkeiten und Konflikte weghaben, am besten ausradieren, so tun, als sei alles wunderbar. Das ist aber, wie wir wissen, nicht so einfach. So halten wir uns für eine Weile zusammen, bis es nicht mehr geht. Ein unpassendes Geschenk, nicht erfüllte Wünsche, erzwungene Gemeinsamkeit mit Eltern, Schwiegereltern, neuen Partnern, mit den „Ex“, manchmal eine winzige irritierende Kleinigkeit, bringt das Fass zum Überlaufen, und schon ist der ganze Frieden dahin. Gerade bei so hohen Erwartungen ist der Aufprall auf dem Boden der Realität dann besonders schmerzlich und der Weg zum Scheidungsanwalt nicht weit – siehe oben.

Ich wuchs in einem sehr strengen katholischen Elternhaus auf. Ehe, Familie, Treue, Kinder bekommen und sich in sein Schicksal fügen mit der Hoffnung auf ein besseres Leben nach dem Tod waren grundlegende Werte in unserer Familie. Alle, vor allem meine Mutter, lebten nach diesen Grundsätzen. Ich weiss nicht, ob die Ehe meiner Eltern glücklich war. Das war aber auch nicht die Frage. Meine Mutter fügte sich in ihr Schicksal, weil sie es als von Gott gegeben ansah, genauso wie vor ihr ihre Mutter und deren Mutter, Generationen von Müttern, die ihre Pflicht erfüllten. Sie starb mit 62 Jahren. Meine Mutter war kein Einzelfall. In unserem kleinen Dorf lebten alle nach denselben Werten, niemand fragte, ob das Sinn machte oder ob es noch etwas darüber hinaus gebe, oder ob Glück im jetzigen Leben ein erstrebenswertes Ziel sei. Ich hatte Glück, denn ich kam aufs Gymnasium, in die Stadt. Das war zwar auch katholisch, aber ich kam auch mit anderen Denkweisen in Kontakt, speziell später im Studium. Psychologie, Soziologie, Philosophie, welche neuen Denkweisen! Ich fühlte mich frei in meinem Denken. Die 68er prägten mich wie viele andere in meiner Generation: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“. „Freie Liebe“, ausprobieren, Treue war nicht wichtig, aber experimentieren. Was haben wir uns weh getan, denn in Wirklichkeit wollten wir doch Liebe, Geborgenheit, Treue. Das hätte aber nicht zum Zeitgeist gepasst. Und so versuchte ich mich über viele Jahre in Dreiecksbeziehungen, manchmal auch mehr, bis zu einem Punkt, an dem ich schwer krank wurde.

Danach wollte ich den „Mann fürs Leben“ finden, Kinder bekommen, berufstätig sein, alles gleichzeitig. Auch das scheiterte, denn dann schlug ich eine spirituelle Laufbahn ein, wieder mit neuen, eigenen, Werten. Leben in der Kommune war angesagt. Ich genoss es für einige Jahre, bis ich das Gefühl hatte, es ist genug. Dann ging ich wieder auf die Suche, nach meinen eigenen Werten, meiner eigenen Art zu Leben. Ich traf einen Mann,wir verliebten uns ineinander,  wir heirateten, ein wichtiger Schritt. Wir versuchten unsere gemeinsamen Werte zu finden und zu leben.

Nachdem meine Ehe – nach 22 Jahren – zu Ende gegangen war,  träume ich manchmal immer noch, auch romantische Träume, von Liebe, die ewig währt, Familie, Menschen, die in Frieden und Harmonie miteinander bis ans Ende ihrer Tage leben, füreinander da sind und sich umeinander sorgen und kümmern.

Ich glaube an die Kraft der Liebe. Dennoch habe ich mich im Laufe meines Lebens von einigen meiner romantisch überhöhten Vorstellungen verabschieden müssen. Zum Beispiel von der Idee, dass ich mit meinem Mann bis ans Ende meines Lebens verliebt zusammen sein würde. Unsere Beziehung  veränderte sich, und aus der romantischen Liebe war Alltag geworden. Jeder hatte sein eigenes Leben, und manches passte nicht mehr zusammen. Wir haben auch nicht mehr viel miteinander kommuniziert. Und so ist geschehen, was ich nie für möglich gehalten hätte: Unsere Lebenswege sind auseinander gegangen.

Das war schmerzhaft, vor allem, weil ich meine „Ideale“, meine Konzepte, aufgeben musste, die ich so gern weiter behalten hätte. Der grösste Schmerz des Scheiterns ist das Loslassen von Altem, an dem man hängt, auch wenn es nicht mehr funktioniert. Aber es ist auch eine Chance.

Die Chance, neu zu schauen: Was ist es, was uns noch verbindet ausser Romantik, Leidenschaft, Sex, Aufregung? Gibt es darüber hinaus Qualitäten und Werte im Zusammensein, die es uns ermöglichen, eine neue Ebene zu finden?

Als wir heirateten, hatten wir eine spirituelle Zeremonie, in der wir uns gegenseitig ewige Freundschaft versprachen. Damals habe ich das Ausmass dieses Versprechens nicht erfasst. Heute tue ich es. Ewige Freundschaft ist ein neuer Wert in Beziehungen. Es bedeutet für mich, gegenseitige Unterstützung, Hilfe, und Anerkennung des Anderen in seinem Anders – Sein. Manchmal ist das verdammt schwer, vor allem, wenn er Dinge tut, mit denen ich nicht einverstanden bin, zum Beispiel sich in eine andere Frau zu verlieben. Das kränkt mein Ego als Frau gewaltig. Selbst dann, wenn ich selber meine Augen auch schon mal in eine andere Richtung gewendet habe, möchte ich doch, dass er nur mich anschaut. Was für ein verdrehter Anspruch.

Man sagt, dass die Liebe ein Kind der Freiheit sei. Das ist so lange leicht gesagt, wie sich keiner Freiheiten nimmt. Aber wehe, einer nutzt seine Freiheit in einer Weise, die dem anderen nicht gefällt. Wie schnell kommen wir dann an unsere Grenzen. Wir erpressen den anderen emotional (manchmal auch durchaus handgreiflich), wir leiden ganz furchtbar. Aber was hat er denn getan? Einfach nur, was ihm in diesem Moment gut tut. Nur weil ich nicht derselben Meinung bin, heisst das noch lange nicht, dass er tun muss, was ich möchte. Am schlimmsten ist das natürlich, wenn ich es mir gerade nicht so gut gehen lasse, dann möchte ich auch nicht, dass es ihm gut geht. Wie verrückt ist das denn?

Die Frage stellt sich auch: Welche Freiheiten nehme ich mir? Welche gestatte ich dem anderen?

Wie sind wir füreinander da?

Es gibt ein paar Orte, an denen wird eine neue Art von Familie ausprobiert.

Am besten kenne ich die Humaniversity in Holland, eine therapeutische Gemeinschaft. Hier wird versucht, Freundschaft und Familie in einer neuen Weise zu leben.

„Wahlfamilie“ würde ich es nennen. Menschen leben zusammen, weil sie es möchten, nicht weil sie dazu gezwungen werden oder voneinander abhängig sind. Sie wissen, dass zum Zusammenleben mehr gehört, als sich zu mögen, oder Blutsbande. Man muss sich ständig, jeden Tag, miteinander beschäftigen, ehrlich sein, sich die Wahrheit sagen, manchmal auch die Meinung. Man muss den Anderen in seiner Andersartigkeit akzeptieren, und nicht nur das: ihn fördern, ermutigen, sein Ding zu machen. Das ist nicht leicht, im Gegenteil, es fordert von allen Beteiligten grosse Achtsamkeit und die Bereitschaft, sich immer wieder ehrlich und aufrichtig mit sich selbst und seinem eigenen “Schatten” auseinander zu setzen.

Ich kann nicht beurteilen, wie gut das in allen diesen  Gemeinschaften gelingt. Aber ich glaube, dass Liebe nur in einem Umfeld von Freiheit und Verantwortungsbewusstsein gedeihen kann.