Heilen – eine Kunstform oder: Die Kunst der Trauma – Heilung

Neuerdings wimmelt es im Therapiefeld von „Trauma – Heilungs – Methoden“. Klopfen, Körperempfinden, Meridiane befreien, Augenrollen, und was sich sonst noch alles auf dem Markt tummelt, ist beachtlich. Manche der Anwender versprechen Heilung in nur einer Sitzung (oder in ganz wenigen). Noch abenteuerlicher sind diejenigen, die Weltfrieden versprechen, wenn nur alle Mitglieder der verfeindeten Parteien ihre Methode anwendeten. Dies wird vor allem im Hinblick auf den Palästina – Israel Konflikt verkündet. Ich habe das tatsächlich auf der Webseite einer bekannten amerikanischen Traumabearbeitungsmethode gelesen. Wer wünscht sich nicht schnelle Heilung aller jahrelang mit sich herumgeschleppten Probleme, sozusagen im Instant – Verfahren? Wer würde sich nicht ewigen Ruhm verdienen, der eine Lösung für den unlösbaren Nahostkonflikt fände? Ausserdem ist es eine sehr wirkungsvolle Vermarktungstechnik, sofortige Heilung und Lösung zu versprechen, denn das Leid schwer traumatisierter Menschen ist unbeschreiblich, und manche sind bereit, alles zu tun, um endlich frei zu sein von Schmerz, Not und Begrenzungen.

Was ist eigentlich ein Trauma?

Das Wort „Trauma“ stammt aus dem altgriechischen und bedeutet „Wunde“. In der Medizin werden damit körperliche Verletzungen beschrieben. Die Psychologie bezeichnet mit dem Wort seelische Verletzungen.

Wie entsteht ein Trauma? Ein Trauma entsteht immer durch ein äusseres Ereignis, das so überwältigend ist, dass der betroffene Mensch keine Kontrolle mehr über die Situation hat und ihr vollkommen wehrlos ausgeliefert ist. Dies können verschiedene Situationen sein:

  • Ereignisse, die alle Menschen in dieser Situation betreffen, z.B. Krieg, der Holocaust, Vertreibung, Bedrohung durch terroristische Angriffe, Naturkatastrophen (Feuer, Erdbeben, Überschwemmungen, Wirbelstürme, Tsunami), Zugunfälle.
  • Persönliche schlimme Erlebnisse, z.B. (sexueller) Missbrauch und (körperliche / seelische) Gewalt in der Kindheit, Tod oder Verlust nahe stehender Menschen, Vergewaltigung, Unfälle, Stürze, Operationen, schwere Krankheiten, Zahnarztbehandlungen, Spritzen, länger anhaltende Bewegungseinschränkungen (z.B. durch Gipsverbände, Schiene etc), Vergiftungen, Sportverletzungen, (beinahe) Ertrinken, Stress im Mutterleib und Komplikationen bei der Geburt (Nabelschnur um den Hals, Drogen, Alkohol), Autounfälle, Scheidung, Verlust des Arbeitsplatzes oder der Wohnung, Mobbing (Arbeitsplatz, Schule, Kindergarten, innerhalb der Familie), Angriffe durch Tiere, Wohnungswechsel, Zeuge sein bei solchen schlimmen Ereignissen(z.B.im Fernsehen)

Ich zähle mit Absicht viele verschiedene mögliche Ereignisse auf, die ein Trauma auslösen können. Manche davon sind allgemein bekannt und anerkannt, andere scheinen weniger verständlich als Auslöser. Für Kinder sind manche Ereignisse schwerwiegend, die für Erwachsene als minimal erscheinen, z.B. ein Wohnungswechsel, weil sie weniger Kontrolle und Entscheidungsmöglichkeiten haben.

Was geschieht bei einem solchen Ereignis, was bewirkt es? Durch das äussere Ereignis, das plötzlich, überwältigend und unkontrollierbar ist, wird das Nervensystem „überflutet“ und das seelische Gleichgewicht des Betroffenen erschüttert. “Angst und Erregung steigen ins Unerträgliche; das Grundvertrauen, durch seine nächsten Bezugspersonen beschützt und in seinen eigenen körperlichen und seelischen Abgrenzungen zur Umwelt unantastbar und sicher zu sein, wird beschädigt“ ( zit. nach Weinberg, Traumatherapie mit Kindern). Dies kann verschiedene Auswirkungen haben. Der Betroffene kann in einen Zustand der „Erstarrung“ verfallen, wie gelähmt sein, nichts oder wenig fühlen, verlangsamt sein, wie abwesend sein, keine Interessen oder keinen Appetit haben, sprachlos werden, und viele andere Symptome können auftreten, die das Leben dieses Menschen in ernsthafter Weise beeinträchtigen. Es kann sogar zu einer völligen Lebensverweigerung kommen.

In die Sprechstunde kommt ein Elternpaar mit einem 6-jährigen Mädchen, Janna. Bis vor einem halben Jahr schien das Kind ganz normal zu gedeihen. Es war fröhlich, gesund, spielte und entwickelte sich altersgemäss. Ganz plötzlich hatte die Kleine aufgehört zu essen. Auch sprach und spielte sie kaum noch. Was war passiert? Die Familie hatte zur Miete bei der Grossmutter gewohnt, die das Kind auch in den ersten Jahren wesentlich betreute, während beide Eltern tagsüber arbeiteten. Janna hängt sehr an ihrer Grossmutter, und diese an ihr. Vor einem halben Jahr zog die kleine Familie in ihr eigenes Haus mit Garten, weit weg von der Grossmutter, die sie nun nur noch sehr selten sieht. Ab diesem Zeitpunkt verweigerte sie das Essen und sprach nicht mehr. Sie war extrem abgemagert, und die Ärzte sahen nur noch die Möglichkeit, sie künstlich zu ernähren, um sie am Leben zu erhalten. In einem behutsamen therapeutischen Prozess, der die ganze Familie einbezog, konnte Janna die Freude am Leben wieder gewinnen. Sie geht jetzt in die Schule, isst und entwickelt sich, und sieht ihre Grossmutter, so oft es geht.

Siegmund (42) war als Kind oft dabei, wenn sein Vater seine Mutter misshandelte, sie schlug, trat und beschimpfte. Er versuchte auch häufig, der Mutter zu helfen, was ihm natürlich nicht gelang, denn er war zu klein und schwach. Auch er selbst wurde vom Vater geschlagen und gedemütigt. Er kommt in die Sprechstunde wegen immer wiederkehrender Albträume, Ängsten, und weil er noch keine Partnerin gefunden hat. Auch hier ist ein einfühlsamer therapeutischer Prozess, sowohl allein, als auch in einer Gruppe mit anderen, hilfreich. Langsam findet Siegmund zu einem Vertrauen in sich selbst und zu anderen. Heute lebt er mit einer Partnerin zusammen. Sie haben ein gemeinsames Kind.

In beiden Fällen bestand die Grundeinstellung der therapeutischen Hilfe aus mehreren Elementen:  Der Anerkennung der tiefen Verletzung, die Janna und Siegmund erlebt hatten, der Mobilisierung der Überlebenskräfte und der Anwendung der jeweils passenden Therapieform zur Durcharbeitung und Heilung des Traumas auf der körperlich – geistig – seelischen Ebene. Ich persönlich glaube, dass die „Kunst“ jedes Heilungsprozesses in der Aktivierung der Kräfte liegt, die bisher das Überleben gewährleistet haben. Denn jeder Mensch, der mit einer Traumatisierung in die Therapie kommt, hat es immerhin geschafft, bis zu diesem Zeitpunkt zu überleben. In der modernen Psychologie wird dies „Resilienz“ genannt. Damit ist die Fähigkeit des Menschen gemeint, in seinen ursprünglichen gesunden Zustand zurück zu gelangen. Manche Menschen können diese Kräfte selber mobilisieren. Sie besitzen sozusagen eine innere (oder auch echte) Liste all dessen, was ihnen hilft, in schweren Situationen zu überleben. Das kann Musik sein, Freunde, Natur, bestimmte Beschäftigungen, religiöse Praktiken, essen, tanzen, malen, schreiben, egal was. Das Kriterium ist, dass es sich gut anfühlt, wenn man es tut. Eine gute Therapie baut dieses in den Therapieaufbau mit ein. Es gibt nicht nur eine positive Richtung in der Therapie, sondern es hilft dem Menschen auch, wieder die Kontrolle über sein Leben zu gewinnen, denn das Schlimmste an einer traumatischen Erfahrung ist der völlige Kontrollverlust über die Situation.

Übrigens: Nicht jedes überwältigende Erlebnis löst bei jedem Menschen eine Traumatisierung aus. Wenn der Betroffene sofort Zuwendung erhält, körperlich und seelisch gehalten wird von jemandem, der mit der Situation angemessen umgeht, dann ist es durchaus möglich, dass das Erlebte gut verarbeitet und integriert wird. In meinem eigenen Leben habe ich dies oft erfahren. In meiner Kindheit war es ein Kaplan, der für mich da war, heute sind es meine engsten Freunde, die immer erreichbar sind, wenn ich in Not bin. Dies war und ist neben den Therapien, die ich gemacht habe, meine grösste Kraftquelle.

Eine kleine Geschichte zum Abschluss (zitiert nach Luise Reddemann, Eine Reise von 1.000 Meilen beginnt mit dem ersten Schritt):

Ein Mann und eine Frau kommen zum Rabbi, weil es schlecht steht um ihre Ehe. Erst beklagt sich der Mann, und der Rabbi sagt: „Du hast Recht.“ Dann beklagt sich die Frau, und der Rabbi sagt: “Du hast Recht.“ Da sagen beide: „Rabbi, Du bist verrückt.“ Da sagt der Rabbi: „Ihr habt Recht.“

Die Kunst der Heilung besteht darin, die andere Seite anzuerkennen!

Willkommen im Leben!

 

 

Literaturhinweis:

Sakino Mathilde Sternberg (2007), Wie bewegt man einen Elefanten? Weg vom Trauma, hin zum Leben, Innenwelt Verlag

 

Der Artikel wurde im KGS 10, 2009, veröffentlicht