Das große Schweigen: von Tätern und Opfern

Von Susanne Elten

Sakino ist Therapeutin in Berlin. Sie ist mit mehreren spannenden Projekten zugange: sie ist Psychotherapeutin mit eigener Praxis und seit 1981Sannyasin. Sie hat ein Buch geschrieben mit dem Titel „Wie bewegt man einen Elefanten“ in dem ihr eine Synthese gelingt mit allen ihren therapeutischen Ausbildungen, mit ihrer Lebenserfahrung als Sannyasin und den neusten Erkenntnissen in der Traumatherapie. Um ihr neustes und „liebstes Kind“, das „Storytelling“ zu verstehen muss man einen Blick auf ihren Werdegang werfen.

Vor 60 Jahren wurde Mathilde in einem Dorf in der Nähe von Osnabrück in eine streng katholische Familie geboren. Der Vater hatte sich durch den Krieg von einem lebenslustigen Burschen in einen rigiden, jähzornigen, alkoholabhängigen und gewalttätigen Menschen verwandelt. Sie hatte einen Bruder, der gleich nach der Geburt gestorben war (lange dachte sie, sie ist die Erstgeborene, fühlte sich aber nicht so)  und eine Tante, deren Namen sie trug, die mit 28 an TBC gestorben war (auch Sakino erwischte die TBC – im Sanatorium kämpfte sie ums Überleben). Das ist deswegen wichtig, weil Sakino später lernte, dass die Biographie eines Menschen nicht mit der eigenen Geburt beginnt, sondern, dass auch unsere Herkunftsfamilie, unsere Ahnen prägende Faktoren unseres Lebens sind.

Nach dem Psychologiestudium in Hamburg, der Diplomarbeit in angewandter Psychologie beim Chemieriesen UNILEVER findet sie einen Job in Hamburg, bei dem es um die Arbeit mit behinderten Kindern geht, obwohl das gar nicht ihr Gebiet ist. Sie spezialisiert sich auf autistische Kinder, und ihr wird zum ersten Mal bewusst, dass jeder Mensch Teil eines ganzen Systems ist, des Familiensystems. Im Rückblick sieht sie auch, dass es kein Zufall war, dass sie sich durch ihre Spezialisierung auf autistische, also „sprachlose“ Kinder zum ersten Mal mit dem „Schweigen“ als Symptom beschäftigt hat.

Sie lernt die Arbeit von Virginia Satir, der Mutter der systemischen Familientherapie, kennen und beginnt eine eigene Therapie bei Sw. Satyamo. Den findet sie als Therapeuten so gut, dass sie über ihn den Weg zu Osho findet. Es folgen: Jahre auf der Ranch in Oregon, dort macht sie den „Rajneesh Therapist“-Schein. 1985 bringt sich ihr Vater um, die Ranch bricht zusammen und sie findet zu Veeresh, dem Gründer und Leiter der Humaniversity in Egmond aan Zee, Holland. Auch er eine Vaterfigur.

Als sie spürt, dass ihre Zeit in der Berliner Commune zu Ende ist, steht sie mit einem Koffer aufm Kuhdamm und denkt: „Was jetzt?“ Nach einer Weile als reisende Therapeutin trifft sie Prabhat, einen Arzt mit Praxis in Neukölln, und lässt sich schließlich in Berlin nieder. 1993 heiraten die beiden, ein wichtiger Schritt für Sakino.

Sakino ist neugierig, lernbegeistert. Sie legt Wert auf Fort- und Weiterbildung. So trifft sie Bert Hellinger und lernt  Familienstellen. 2001 das Aha-Erlebnis auf einem Aufstellerkongress: dort lernt sie die Professoren Dan Bar-On (Israeli) und Sami Adwan (Palästina). „Die beiden haben im Sturm mein Herz erobert“.

Dan Bar-On (*1938 in Haifa, gestorben am 4. September 2008): israelischer Psychologe, Therapeut, Holocaust- und Friedensforscher, Autor zahlreicher Bücher und Artikel. Der hatte zunächst Landwirtschaft studiert und 25 Jahre in einem Kibbuz im Negev gearbeitet. In den 1970er Jahren interviewte er die Kinder von Holocaust-Überlebenden in Israel. Traumatisiert durch 8 Kriege fragt er sich eines Tages: was ist eigentlich mit den Kindern der Täter? Weil er der Sohn von deutschen Holocaust Überlebenden war konnte er 1985 in Deutschland reisen und arbeiten: er sprach mit Kindern von Nazi-Tätern. Daraus ist das Buch „Die Last des Schweigens“ entstanden (lesen!). 1992 initiierte er den Gesprächskreis „To Reflect and Trust“ zwischen Täter- und Opferkindern des Holocaust, dem auch Martin Bormann junior angehörte.

Sami Adwan, 1954 in Hebron geboren, Professor für Pädagogik an der Bethlehem Universität.

Beide zusammen haben mehrere Friedenspreise verliehen bekommen. Ihr gemeinsames Hauptprojekt ist PRIME (Peace Research Institute of the Middle East).
Eines der wichtigsten Projekte von PRIME ist ein Schulbuch, das die Geschichte Israels/Palästinas nebeneinander und in beiden Versionen erzählt. In der Mitte des Buches ist Platz für die eigene Geschichte des Kindes. Ein weiteres Projekt: Familien aus Israel und Palästina kommen zusammen und erzählen ihre Lebensgeschichten (Dual-Narrative History Project). Siedler und Vertriebene. „Storytelling“ ist eine Arbeit, bei der einer erzählt und alle anderen zuhören, und NUR zuhören. Das bewirkt eine tiefe Heilung.

Sakino wundert sich über die Intensität der Gefühle, die sie entwickelt, als sie Dan und Sami 2003 wieder auf einem Kongress trifft.
Dan fragt:
„Weißt du woher dein enormes emotionales Interesse kommt?“
„Nein!“
„Hast du jüdische Vorfahren?“
„Nein“
„Hast du NS-Verbrecher in der Familie?“
Sakino weiß nur, dass ihr Vater als Soldat in Minsk war während des Krieges. In einem Workshop mit Dan etwas später erlebt sie, wie eine Frau, deren Vater ein Täter war, erzählt. Wie ein Blitzschlag trifft sie die Erkenntnis: in meiner Familie ist das Schweigen genau das gleiche.
Sakino forscht. In ihrer eigenen Familie weiß kein Mensch, was der Vater im Krieg getrieben hat. Auch der Selbstmord bleibt rätselhaft. In einer katholischen Familie bringt man sich nicht einfach um. War er Mitläufer oder Täter, hat er selbst Menschen umgebracht, mehr als unter „normalen Kriegsbedingungen“ nötig? Sakino forscht in den einschlägigen Archiven und bekommt raus, was rauszubekommen war. Sie hat noch nicht alles gelesen, lesen können.
Die inzwischen enge Freundschaft zu Dan hat ihr geholfen. „Die Suche nach Fakten ist die Hölle“. Ihr wird klar: Meditation allein reicht nicht aus – es gibt es noch viel mehr zu tun, aufzuarbeiten. Die Fähigkeit nach innen zu gehen, zu meditieren, hat ihr geholfen, diese Zeit durchzustehen.

Sie fragt Dan, ob er seine Arbeit weitervermitteln wolle. So kommt ein dreijähriges Training „Dialogue in conflict“ in Hamburg zustande, unter der Schirmherrschaft der Körber Stiftung. Sakino ist eine von 15 Menschen aus aller Welt aus verschiedenen Konfliktgebieten, die von Dan seinen Ansatz des „Storytelling“ lernen. „Storytelling“ ist keine Therapie und keine Wahrheitssuche. „Storytelling“ ist das Erzählen der Familiengeschichte, eine erweiterte Facette der historischen Wahrheit. Es macht einen Unterschied, ob ich mich mit den historischen Fakten beschäftige, z.B. dass in Hiroshima die erste Atombombe gefallen ist oder ob ich die persönliche Geschichte dessen kenne, der sie abgeworfen hat oder derer, die sie getroffen hat. Und die Geschichte der Kinder und Enkel dieser Leute. Es sind Geschichten, die über die „objektive Wahrheit“ hinausgehen.

Retraumatisiert das Erzählen nicht? Schließlich begibt man sich wieder ganz rein, in das schwarze Loch? „Nein“ sagt Sakino „Du kommst nicht dran vorbei. Es macht auch nichts, denn gehört werden ist eine große Ressource, die Heilung kann stattfinden.“ „Storytelling“ findet inzwischen überall auf der Welt statt. Es hilft Vietnamveteranen genau so wie Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien. „Es hat auch meine therapeutische Arbeit total verändert.“

In Berlin ist sie der Motor für den Aufbau eines „International Dialogue Center“. Dort sollen „Storytelling“-Gruppen stattfinden, aber auch Forschung. Und fachliche Hilfestellung für Menschen, die die Geschichte ihrer Familie erforschen wollen. Sponsoren erbeten!

„Ziehst du als Fachfrau jetzt jede Menge Täterkinder an? Und wie geht´s dir damit?“
„Ja“ sagt Sakino „die fühlen sich bei mir aufgehoben und verstanden. Ich hab das ja auch in mir. Es geht darum auch die Teile in mir zu akzeptieren, die auch Täter sind“. Sakino hat teilgenommen an der Ausbildung zum „Mediator der interkulturellen Dialogarbeit“ (die die Körber-Stiftung in Hamburg gesponsert hat). Lernen durch Forschen war die Aufgabe. Sakino forschte in der eigenen Familie. Sie interviewte die Frauen. Inwiefern waren sie beteiligt, haben sie geschwiegen, verschwiegen, vertuscht? Sie spricht mit der Tante, der einzigen Überlebenden der „Tätergeneration“, deren Tochter (Sakinos Generation) und deren Enkelin.

In der eigenen Familie trifft sie auf Schweigen. „Sehr häufig ist es wie in meiner Familie: einer macht es (die Nachforschungen), die anderen wollen nix davon wissen. Wie versiegelt waren die Familiengeschichten bisher.“ Erst jetzt, 60 Jahre danach scheint das große Auftauen dran zu sein.

Mit einigem Erstaunen stellt sie fest, dass auch sie selbst zum Schweigen neigt. z.B. in Oregon auf der Ranch. „Ich war Mitläuferin, wie mein Vater Mitläufer war.“ Daraus entstand die Idee für ein neues Projekt: Interviews mit deutschen Sannyasins ihrer Generation, deren Eltern in NS Zeit so erwachsen waren, dass sie auch involviert gewesen sein können. Gibt’s da Parallelen? Wie reflektieren wir unsere Zeit mit Osho, unsere Sannyas-Zeit im Zusammenhang damit, was unsere Eltern gemacht haben: sind wir ähnlich? Sind wir verschieden?
„Ich habe festgestellt: ich hab auf der Ranch sehr ähnlich gehandelt wie mein Vater im 3. Reich: ich hab weggeguckt, ich bin mitgelaufen, habe Dinge gesehen und nicht wissen und wahrhaben wollten.“

Daraus möchte Sakino ein wissenschaftliches Forschungsprojekt machen. Sie möchte, dass Sannyasins ihr ihre Lebensgeschichte erzählen. Von Bedeutung wird sein, dass ausschließlich erzählt wird und nicht kommentiert, bewertet oder interpretiert. „Es war so auffallend, dass so viele Sannyasins Deutsche waren.“

Also: nachdem Sakino nicht zwei Jahre umsonst arbeiten kann: Sponsoren gesucht! Und Leute, die ihre Lebensgeschichte erzählen wollen.
lebenslust@sakino.de
www.sakino.de

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Außerdem spannend zu lesen:

 

Bar On Dan (2003): Die Last des Schweigens, Körber Verlag

Bar On, Dan (2004): Erzähl dein Leben, Körber Verlag

Müller- Hohagen, Jürgen (2005), Verleugnet, verdrängt, verschwiegen, Seelische Nachwirkungen der NS Zeit und Wege zu ihrer Überwindung, Kösel Verlag

Sternberg, Sakino Mathilde(2007), Wie bewegt man einen Elefanten – Weg vom Trauma, hin zum Leben, Innenwelt Verlag
Außerdem spannend zu surfen:

http://de.wikipedia.org/wiki/Storytelling_(Methode)
http://de.wikipedia.org/wiki/Dan_Bar-On
http://www.justvision.org/en/profile/prof_sami_adwan
http://vispo.com/PRIME/

 

 

Der Artikel wurde in der Osho Times 2-2009 veröffentlicht